Kann man eine Stadt wie Sarajewo besuchen, ohne sich mit der Zeitgeschichte auseinander zu setzen? Nein, das geht nicht, schon gar nicht, weil kulturtouristisches Reisen die einzigartige Möglichkeit bietet, Kulturgeschichte und Zeitschichte zu verbinden. Wenn es dafür ein herausragendes europäisches Beispiel gibt, dann ist es Sarajewo in Bosnien-Herzegowina.
Sarajewo steht wie kaum eine andere Stadt für Multiethnizität und Multikulturalität – zurecht, denn wer durch die Gassen der Altstadt schlendert kommt in direkten Kontakt zu den muslimischen, christlichen, orthodoxen und jüdischen Wurzeln der Stadt. Kleine Läden laden zum Stöbern in kunsthandwerklichen Silber- und Kupferarbeiten ein, orientalische Süßigkeiten stapeln sich als kulinarische Stillleben in den Schaufenstern, Cafés säumen die engen Gassen, in denen bosnischer Kaffee mit Lokum und Baklava angeboten wird.
Neben den archäologischen Überresten der römischen Zeit, die derzeit durch das europäische Projekt ARCHEODANUBE* in ein anspruchsvolles kulturtouristisch ausgerichtetes Stadtentwicklungskonzept eingebunden werden, stürmen Glaspaläste der schicken Einkaufszentren in den Himmel. Die römischen Funde wie auch die glitzernden Einkaufsmeilen zeugen von Prosperität und städtischer Relevanz – jedes zu seiner Zeit. Doch an den reich dekorierten Fassaden des 19. Jahrhunderts, den Art Déco – Fassaden und vielen Gebäuden der ex-jugoslawischen Ära des 20. Jahrhunderts sind die Einschüsse des Bosnienkriegs (1992 – 1995) immer noch sichtbar – historische Wunden, die noch lange nicht restauriert, geschweige denn im Bewusstsein der Bewohner*innen geheilt sind.
Das 2014 wieder eröffnete Rathaus mit seiner orientalisch-historistischen Fassade ist nach der fast vollständigen Kriegszerstörung originalgetreu nach historischen Vorlagen und viel Handarbeit wieder aufgebaut worden als Symbol des Überlebenswillens und des kulturellen Stolzes der Einwohner*innen von Sarajewo. Es beherbergt derzeit das Stadtparlament und Ausstellungen zur Stadtgeschichte und ist frei zugänglich mit beklemmenden Filmen und Bildern der Zerstörung.
Unwiederbringlich verloren sind hingegen mehr als 2 Millionen historische Bücher und Dokumente, die in der Nacht vom 25. zum 26. August 1992 durch Beschuss serbischer Belagerer vernichtet wurden. Die geretteten und teils restaurierten Bestände werden derzeit in der Nationalen und Universitätsbibliothek aufbewahrt und sollen mittelfristig wieder einen Platz im Rathaus der Stadt finden. Sie sind in der Universität der Öffentlichkeit zugänglich und bezeugen gleichermaßen barbarische Zerstörung kultureller Werte und den Willen zu Wiederaufbau und zu Erinnerung. Ein Besuch ist ein Erlebnis, das in keinem Reiseführer hervorgehoben wird und doch in der Erinnerung an einen ganz besonderen Ort haften bleibt.
Wer die Bibliothek besichtigen möchte, wendet sich (in englischer Sprache) an katalog@nub.ba und darf sich über freundliches Entgegenkommen von Bibliothekarin Selma freuen. Die Bibliothek befindet sich im Bibliotheksgebäude auf dem Universitätscampus (Zmaja od Bosne 8b) und ist an Werktagen von 8 h – 16 h geöffnet.
(Herzlichen Dank dem Leiter der wirtschaftlichen Stadtentwicklung Haris Sijarić und Archäologin Azra Sarić, Gemeindeverwaltung Sarajewo Centar, für den Hinweis auf die derzeitige Verwahrung der Überreste der zerstörten Bibliotheksbestände und die fachliche Begleitung.)
* „ARCHEODANUBE – Archäologische Parks in städtischen Gebieten als Instrument für lokale nachhaltige Entwicklung“ (2020 – 2022) zielt darauf ab, Instrumente und Bildungsangebote für archäologische Stätten im innerstädtischen Bereich der Donauländer zu schaffen. Dies betrifft sowohl die nachhaltige Stadtentwicklung als auch den Kulturtourismus. ARCHEODANUBE wird von der Stadt Ptuj / Slowenien geleitet und umfasst 15 Städte und Einrichtungen der Regionalentwicklung und des Kulturtourismus aus 11 Donauländern. Mehr finden Sie hier, und besuchen Sie das Projekt auch auf Facebook: https://www.facebook.com/ArcheoDanube/ .
Autorin: Karin Drda-Kühn