Wie gut kennen Touristiker*innen eigentlich die Zielgruppe der kulturell interessierten Gäste? Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie diese Zielgruppe nicht richtig einschätzen können, die Schätze ihres Verantwortungsbereichs entweder nicht kennen oder sie in ihrer Relevanz für kulturell interessierte Gästegruppen nicht wahrnehmen.
Beispiel Belgrad – die serbische Hauptstadt ist für Kulturinteressierte ein Ort, an dem alles zu finden ist, was europäische Kultur ausmacht: römisches, mittelalterliches, osmanisches, barockes und habsburgisches Erbe neben Monumental- und Prachtbauten des Jugendstils, des Sozialismus und der Gegenwart. Hochklassige Musik- und Kunstveranstaltungen, Festivals und eine junge, spannende Kunstszene bereichern jeden Besuch. All das wird völlig zurecht in den einschlägigen Medien beschrieben und beworben. Es genügt aber das Flanieren entlang der Haupt-Einkaufsstraße, der Kneza Mihaila, und den umliegenden Straßen, um dem kulturell interessierten Gast das näher zu bringen, was den „kulturellen Alltagskern“ der Belgrader ausmacht – authentisch, liebenswert und ganz nah an den Einheimischen.
Die Hauptstadtbewohnerinnen sind ein belesenes Völkchen – dieses Eindrucks kann man sich nicht erwehren angesichts der Zahl und Ausstattung der unzähligen Buchläden – ein Paradies für Liebhaber innen von Belletristik bis Sachbuch. Vom Kurzgeschichtenband aus dem zeitgenössischen Kleinstverlag bis zum monumentalen Bildband, es findet sich alles, dazu in vielen Sprachen. Besonders sympathisch: in vielen Buchläden, wie beispielsweise dem Bookastore in der Cara Lazara 12, sind Kaffeetheken und bequeme Sitzgelegenheiten integriert, die zum Schmökern einladen – da freut man sich selbst über einen Regentag. Oder der Buchladen Knjizara Srpski Kutak im Gebäude der Serbischen Akademie der Wissenschaft und Künste (Kneza Mihaila 35): Unter Stuckdecken und Kristallleuchtern lässt es sich hervorragend im reichen Sortiment schmökern (sehr gute englischsprachige Literaturabteilung) und Kaffee trinken. Selbst ein Leseabend lässt sich hier verbringen, denn der Laden ist bis 22 h geöffnet – und immer gut besucht. Kontakt zu anderen Buchliebhaber*innen ergibt sich von selbst.
Ebenfalls quer durch die Stadt sichtbar ist das Kunsthandwerk einheimischer Künstler*innen. Ob aus Stoff, Metall, Edelmetallen, Keramik, Schmucksteinen, Naturmaterialien – die kreative Vielfalt ist enorm. Viele kleine Läden lohnen das Stöbern, aber auch Pop-up-Läden wie derzeit im Istorijski institut Beograd (Kneza Mihaila 36) mit ihrer Mischung aus Antiquitätenhändlern, Schmuckdesignern und Kunsthandwerkern sind inspirative Fundgrube für „Balkan made“-Design.
Eine weitere Überraschung sind die vielen kleinen Galerien, die bildende Kunst in handlichen Formaten anbieten – Gemälde, Grafiken, Skulpturen. Zugegeben, einige Arbeiten sind schnell-produzierte Massenware, aber die Mehrzahl verrät zweifelsfrei eine geschulte Hand. Dazwischen finden sich immer wieder originelle Arbeiten, die vielleicht nicht den Kunstmarkt erobern werden, aber dafür ein ganz besonderes, persönliches Souvenir sind. Wer ein solches Original nach Hause nimmt, kann sich täglich mit Freude an einen kulturell-inspirierenden Städtetrip erinnern.
Weder die Café-Buchläden, noch das Kunsthandwerk noch die reiche „Kunst zum Mitnehmen“ finden Erwähnung in den einschlägigen Werbemedien der Stadt. Schade, denn das macht Kulturtourismus aus: Entdeckungen jenseits der kulturellen „Must Sees“.
Bild: Blick in den Buchladen Knjizara Srpski Kutak / November 2024
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